J. S. Ellen
- Autorin -

Herion - die Akademie des Neumondes

Leseprobe:

Es war so weit. Heute erfüllte sich das, worauf ich seit fast einem Jahr vorbereitet wurde. Gemeinsam traten wir auf die Lichtung zu, auf der wir schon manchem Ritual beigewohnt hatten. Heute war es Violets, Adams und meine Nacht. Es drehte sich alles um uns.
Der Tag verabschiedete sich langsam, als die letzten goldenen Strahlen der Sonne hinter dem Horizont verschwanden und die Schatten länger und dichter wurden. Die Dunkelheit umhüllte die Welt wie eine samtige Decke. Es war, als hätte der Sommerwind den Atem angehalten, und die Geräusche der Nacht hielten sich verborgen, in Erwartung des Unvermeidlichen. An unseren Plätzen angekommen, glitt mein Blick nach oben in den wolkenlosen Himmel. Der Mond war nicht zu erkennen. Logischerweise, denn heute war Neumond. Ein erforderlicher Umstand für die Nacht des Rituals.
Ich spürte ein Zupfen an meinem Ärmel und sah zu derjenigen, die um Aufmerksamkeit rang. Neben mir stand Violet in ihrem atemberaubenden Kleid. Ihre Hand ruhte auf dem Stoff meiner Ärmel. Auch ich trug ein so ausladendes und riesiges Ungetüm aus Seide und Tüll. Meines war in Blautönen gehalten und passte perfekt. Jedes unserer Kleider war dem Sternzeichen und dem Aszendenten nachempfunden, in dem man geboren wurde.
Heute Nacht waren wir zu dritt. Drei, die heute ihren fehlenden Teil erhielten. Einen Teil, der zu uns gehörte, wie ein Arm oder Bein, das Herz oder die Lunge. Dieser war zwar mit uns geboren worden, wuchs jedoch außerhalb unserer Körper heran. Genauso lange, bis er seine Reife erreicht hatte. Laut den Oberhäuptern war das mit sechzehn der Fall. Um was genau es sich handelte, erfuhr man erst bei diesem Ritual, auf dessen Beginn wir hin zitterten.
Violets Augen, weit aufgerissen und in tiefem Bernstein leuchtend, suchten ratlos und ängstlich meinen Blick. Ihre Lippen bebten, als ob sie Worte formen wollten, die sich nicht auszusprechen trauten.
„Hey“, flüsterte ich ihr ins Ohr „ich wette mit dir, du erhältst ein Buch. Wenn es jemand verdient hat, dann du.“ Ich griff sanft nach Violets Hand, spürte ihre kalten, zitternden Finger in meiner Handfläche. Ohne ein Wort zu sagen, drückte ich ihre Hand fest, versuchte etwas von meiner eigenen unsicheren Zuversicht auf sie zu übertragen.
„Was, wenn es ein Schwert ist?“ In ihren Augen standen Tränen.
„Das glaube ich nicht. Und selbst wenn. Auch das würdest du hinbekommen. Du bekommst alles hin.“ Ich zwinkerte ihr zu und drehte mich dann nach links. Zu meiner anderen Seite stand Adam. Er war in den Feuerfarben des Löwen gekleidet. Sein Anzug saß wie angegossen und verlief als würde Feuer um seinem Körper herumtänzeln. Adams Gesicht zeigte keine Spur von Angst. Ganz im Gegenteil: seine Schultern waren locker, sein Griff um die Stofffalte seines Anzugs entspannt. Selbst sein Atem schien ruhig und gleichmäßig, als ob dies nur ein weiterer gewöhnlicher Tag wäre. Gerade als ich ihn fragen wollte, wie es ihm ging, ertönte ein lautes Geräusch, ehe ich eine Stimme vernahm.
„Ember Jones.“
Ich zuckte zusammen und stellte mich aufrechter hin, als ich meinen Namen über die Lichtung dröhnen hörte.
„Geboren mit folgender Kombination: die Sonne im Löwen, Aszendenten Schütze und dem Mond im Widder.“ Ein Raunen ging durch die Anwesenden. „Komm zu mir.“
Ich trat einen Fuß vor den anderen. Langsamen Schrittes ging ich auf die Person zu, die in der Mitte der Lichtung stand. Um sie herum schwebten drei Kokons von unterschiedlicher Größe.
Angekommen kniete ich nieder, um den Schwur zu sprechen. „Seit Anbeginn der Zeit und bis zu meinem Sterben verschreibe ich mich der Gemeinschaft um Herion. Mit meinem Blut und meiner Ehre gelobe ich, die Prinzipien unserer Ahnen zu wahren und unsere Bestimmung zu erfüllen. Mögen die Sterne über uns wachen und das Schicksal uns leiten.“ Ich holte tief Luft für die letzte Strophe und stellte mich unseren Oberhäuptern gegenüber. Sah einen nach dem anderen an, während ich fortfuhr: „In der Dunkelheit werde ich Licht sein, in der Verzweiflung Hoffnung, und in der Not Mut. Für Herion stehe ich ein, bis mein letzter Atemzug die Welt verlässt.“

 
 
 
 
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